Rezension in Orkus

„Muß ich ihn führen, ich, die tote Seele / Den Höllenschlund hinab, von Tal zu Tal; / Gewiß ist’s wahr, so wie ich’s dir erzähle!“ Wie dereinst Virgil die Führung Dantes übernahm, so begleiten uns Elend seit nunmehr vier Jahren bei unserer Initiation in die Finsternis. Heute ist es vollbracht, das Officium Tenebrarum ist vollendet und findet in „The Umbersun: Au Tréfonds des Ténèbres“ seinen Höhepunkt. Die französisch-österreichische Formation um Renaud Tschirner und Iskandar Hasnawi brilliert mit der dritten und letzten Lektion, indem sie die Dunkelheit und den Tod hörbar macht. „The Umbersun“ ist das Finale der grandiosen Umsetzung eines Konzepts, basierend auf der katholischen Messe der Karwoche, welches im Jahr 1994 mit „Leçons de Ténèbres“ seinen Anfang fand und von „Les Ténèbres du Dehors“ im Jahre 1996 fortgesetzt wurde. Wobei der erste Teil der Trilogie vom Gefühl der Verzweiflung geprägt war, und bei der zweiten Lektion Gewalt und Rebellion im Mittelpunkt standen, breitet Thanatos im dritten Akt des Officiums sein schwarzes Gewand über uns aus, denn der Tod steht im Zentrum des Klanggeschehens. Die bedrückendsten und verworrensten aller Gefühle, nämlich die im Angesicht des Todes empfundenen, werden von Elend auf eine derart gewaltige und infernale Art vertont, daß der Hörer von „The Umbersun“ beinahe ebensolche Gefühle nachempfindet und somit in die tiefsten und beklemmendsten aller Abgründe der Düsternis gestoßen wird, welchen er nicht eher entfliehen kann, als daß nicht mit dem letzten Ton die letzte Kerze erloschen ist. „Vernimmst du nicht den Jammer seiner Klagen? / Nimmst du nicht wahr, wie mit dem Tod er ficht?“ Elends Einzigartigkeit ist gekennzeichnet durch den Einsatz gequälter Schreie in Verbindung mit einem herausragenden Chor, sowie der finstersten Instrumentierung, die die zeitgenössische populäre Musik jemals hervorgebracht hat. Auf „The Umbersun“ werden Arrangements und Harmonien der klassischen Musik hemmungslos mit heutigen Musikelementen verbunden, wie eben mit einem Death Metal-ähnlichen Gebrüll, verstärkt durch den Einsatz von Samples, welche sich zum Beispiel neben der Klarheit der eingesetzten virtuosen Frauenstimmen umso irritierender und durchdringlicher anmuten. Die Orchestrierung der Stücke dieses Albums ist von einer Dichte, die sogar die eines klassischen Orchesters mehrfach übertrifft. Dieser unheilverkündende, monumentale Gewaltakt Elends wird so schnell von keiner, noch so schwarzen, Black Metal-Band zu übertreffen sein, geschweige denn von Musikern eines anderen populär-musikalischen Genres. „Das ist die dunkelste und tiefste Hölle, / Zufernst dem Himmel, welcher alles dreht“. Um jetzt nicht noch endlos in Superlativen zu schwelgen, bleibt mir nur, mein Haupt ehrfurchtsvoll zu verneigen und Elend für diese Kompositionen Dank zu sagen…

Platte des Monats
Anja Lochner
Orkus Nr. 5, Mai 1998