Rezension in Legacy

Man kann sich ihre Bühnenpräsenz allenfalls ausmalen; die Bretter, die die Welt bedeuten, werden ELEND vermutlich niemals erobern wollen. Und dennoch: Ihr "Sunwar The Dead", das zweite Kapitel eines auf fünf Werke angelegten Zyklus, wäre nahezu prädestiniert für eine Aufführung. Das Szenario sehe karg und atemberaubend aus. Irgendwo im Zentrum stünde Renaud Tschirner, dessen Timbre von einer so durchdringenden Resignation ist, dass es das 50 Menschen starke Ensemble Orphique bald übertönt. Iskandar Hasnawi und Sebastian Roland, die weiteren Protagonisten des österreichisch-französischen Kollektivs, müssten im Hintergrund zu suchen sein; auf allerlei kalten schwarzen Apparaten würden sie eine klangliche Gewalt erzeugen, die von einem anderen schroffen, mythischen Stern scheint, gleichzeitig aber unvermittelt schön und lichtstrahlend klingen kann. Die Parallele dazu läge freilich auf der Hand: Als der Komponist Karlheinz Stockhausen weiland ein zeitgenössisches Orchester zu der Kakophonie am Firmament singender Hubschrauber-Rotoren inszenierte, waren die Feuilletons gleichermaßen entsetzt und hingerissen von so viel Avantgarde. ELEND werden (mit einiger Genugtuung) ganz ähnliche Rezensionen zu registrieren haben. Ihr "Sunwar The Dead" überfordert Hörergewohnheit bewusst – jedoch aus purer künstlerischer Notwendigkeit und keinesfalls eines trotzigen Provokationshabitus wegen. Zwar standen schon im Kern des Vorgängers "Winds Devouring Men" majestätische, harsche Kulminationen. Doch im Wesentlichen blieben sie den essentiellen Zügen der abgeschlossenen "Officium Tenebrarum"-Trilogie treu: getragene, bombastische Texturen, Pathos, Verzweiflung und trotzdem große Kraft. ELEND heute – das ist ein einziger Klangkörper. Es geht um Atmosphären, um Äther, um Räume, die Tönen, Fast-Lauten, schieren Geräuschen zugewiesen, von ihnen erfüllt werden. Und darum resoniert alles so eindringlich, so unmittelbar – fast, als hebe "Sunwar The Dead" selbst zu einer tatsächlichen, völlig autarken Aufführung an. Vulkanisch grollen Kadenzen heran, werden kontrapunktiert durch erhabene, dichte Arrangements, gleichwohl ein gewisser Reduktionismus aus den meisten Stücken spricht (’The Hemlock Sea’ oder etwa ’Threnos’). Unumstritten: eines der erschreckendsten, schwärzesten Werke der Musikgeschichte.

(MT) 15/15 Punkte