Rezension in Legacy
Am Anfang war die Stille. Atemberaubend, schwer ist sie. Und in all ihrer Gewalt doch nur wahrnehmbar, wenn große Lautstärke existiert, um sie zu kontrastieren. ELEND haben mit diesen Elementen stets gespielt: Sie fürchteten die Gegensätze nicht, forcierten sowohl kraftstrotzende Ausbrüche wie omnipräsente Stille. Winds Devouring Men, das erste Lebenszeichen nach fünf Jahren, führt diesen Ansatz im Grunde fort und will dabei kaum verhehlen, daß die Musik entstand, als für das eigene Avantgarde-Projekt komponiert wurde. Denn nach The Umbersun, jenem Album, das 1998 den Messen-Zyklus beschloß, kehrten Renaud Tschirner und Iskandar Hasnawi ELEND erst einmal den Rücken, versuchten sich an atonalen Kompositionsfertigkeiten, wie sie etwa Penderecki auszeichnen. Bald aber entstanden Stücke, die klar ELEND waren, den vormals bindenden Rahmen eines post-romantischen Streicher-Ensembles jedoch schlichtweg sprengten. Musiker aus Fleisch und Blut mußten gefunden werden, um Violinen und Bläser erstmals authentisch einzuspielen – und die prägen Winds Devouring Men nachhaltig. Die zuweilen erdrückende, dunkle Massivität der eigens erzeugten Industrial-Geräusche nagt dabei selbst an der Konsistenz jener, die der durchdringende Keifgesang der Trilogie längst nicht mehr zu erschüttern vermochte, läßt aber immer Raum für die erwähnten Geigen, die sich gewaltig aus der Kakophonie eines "Winds Devouring Men" herauszuschälen versuchen. Und das, obgleich die Kraft kurz zuvor ihr Klimax erreichte, dazu in der Lage schien, Dämme brechen zu lassen. Zwar deuteten Tschirners Beschreibungen im Deftone-Interview darauf hin, daß das Komponieren für ihn eher Mathematik sei, wenn Winds Devouring Men aber erklingt, sind Worte nicht mehr als Schall und Rauch: ELEND zerlegen alles, was im Gothic, im Metal – wo ELEND nach wie vor stattfinden werden – bisher mit ihnen in Verbindung gebracht wurde. Dabei ist das Instrumentarium durchaus bekannt. Das Duo hat es jedoch vermieden, gängige Stimuli zu bedienen, indem die ureigene, neue Idee der Dunkelheit in Arrangements und Strukturen manifestiert wird, die im wahrsten Sinne des Wortes avantgardistisch sind. "Vision is all that matters", heißt es in dem gleichnamigen Stück, das zwar den Härtegrad anfangs wieder zurücknimmt, trotzdem aber eine archaische Wucht entfesselt, die offenbar zu Unrecht als Eigentümlichkeit vieler Black Metal-Bands gilt; die einzelnen Streicherschleifen, die Samples wurden im französischen Heimstudio wieder und wieder übereinandergeschichtet und bringen eine abgrundtiefe, entmenschlichte Gewalt auf den Weg, die finsterer kaum sein könnte. Eigentlich müßte die im krassen Gegensatz zu der sehr persönlichen Odyssee stehen, die Hasnawi in den Texten auf sich genommen hat. Jene gingen nämlich aus einem Gedicht hervor, das der französische Teil ELENDs über mehrere Jahre zusammentrug und das vereinzelte Prallelen zu großen literarischen Epen aufweist: Besonders die stechenden, symbolträchtigen Augen oder die Wiedergeburt des Seemanns lassen da an Coleridges "Ancient Mariner" denken, dessen Schicksal bekanntlich auf unzähligen Ebenen zu interpretieren ist. Und so haben auch ELEND seit ehedem funktioniert: Sie durchmessen die düsteren Seiten der Seele, eröffnen von Hören zu Hören neue Dimensionen, die kaum rational, sondern vor allem emotional zu verstehen sind – das faßt berstenden Industrial wie prächtigen Schönklang, opulente Eruptionen wie reduzierte Schwelgereien. Angeordnet, als reite man auf der Welle des Lebens, steigert sich die Musik von getragener Melancholie zu gellender, geballter Lautstärke, klingt bald wieder graduell ab. Diese Kontraste schaffen eine Intensität, die selbst für ELEND außerordentlich ist und Winds Devouring Men zu einem atemberaubenden Klangkoloß anwachsen läßt.
(14 Punkte)
Marcel Tilger