Rezension in Legacy

Je kompromissloser das österreichisch-französische Kollektiv seinen künstlerischen Überzeugungen folgt, je radikaler es sich entwickelt, je genuiner es im Ausdruck wird, desto absurder wirkt es, ELEND noch immer mit dem Gothic-, Darkwave- oder Metal-Genre assoziiert zu wissen und zu sehen, wie ihre Werke vornehmlich dort rezipiert werden. Unterhaltungsmusik langweilt sie seit ehedem. Wer sich nie, hat Renaud Tschirner, der bei ELEND von Österreich aus für kreativen Input sorgt, einmal gesagt, mit der Musik von Richard Strauss beschäftigt hat, könne schwerlich verstehen, worum es in dieser Musik geht. Niemand würde ernsthaft versuchen, gegen diese Behauptung zu argumentieren; als Wegbereiter der Moderne betrat Strauss auf Ebene der Klangfarbe Neuland, war noch mit seinen ersten Opern der Symphoniker, der Wirkung vor allem mit der Kraft des Orchesters erzielte. ELEND beschränken sich längst nicht mehr auf die Instrumentation, die ihnen zur Vollendung der "Officium Tenebrarum"-Trilogie genügte, bewegen sich über das Inventar an konventionellen Klangerzeugern weit hinaus und setzen dort, wo ein herkömmliches Instrument zum Klingen gebracht wird, andere Mittel ein, die mit diesem Klang entweder kontrastieren, brechen oder sich zu polyphonen Kolossen vereinigen. Viel Unerhörtes hat so seinen Weg in diese Musik gefunden; Ensemble Orphique, ein Projekt, in dem die ELEND-Musiker grenzenlos und von der Öffentlichkeit unbehelligt experimentieren und forschen können, versorgt ELEND aus dem Untergrund mit eigens kreierten Industrial-Fragmenten und Klang-Collagen. Das Erschütternde, Atemberaubende dabei ist, dass sie Ausgewogenheit in diesen asymmetrischen Formen finden. Im Gegensatz zum extremen Metal, der vor lauter Hilflosigkeit gerne bemüht wird, um als Assoziationsgröße für ELENDS Musik, ihre klangliche Wucht zu dienen, spüren sie dem Extremen nicht bloß in seiner lauten, dissonanten, majestätischen und schnellen Ausprägung nach. Bei ELEND -- und das gilt für "A World In Their Screams" in noch stärkerem Maße als für alle vorangegangenen Alben -- kann es sehr still, sehr minimalistisch, sehr langsam zugehen und zur gleichen Zeit doch außerordentlich extrem sein. Diese abgründige Ambivalenz ist zwar generell prägend für ihr Schaffen. Sie tritt aber erst mit dem dritten und finalen Teil des "Winds"-Zyklus unverhohlen hervor. Der Intensität des Titels werden ELEND damit in jeder Hinsicht gerecht; alles auf diesem Album -- Chor, Sologesang, Streicher, Industrialsounds, Sirenen, Flüstern... -- ist Schrei! Musik, sagt man, hört man nicht nur. Man spürt sie am ganzen Leib -- und das gilt erst recht für das Zersetzende, das Schmerzvolle, das Sublime, das Sakrale dieser Musik. Um das umsetzen zu können, haben ELEND abermals 30 Musiker und Sänger benötig; schon im Titelstück deuten sie das immense Spektrum der Klangwelten an, weisen voraus auf das sehr rhythmische ,Le Dévoreur', auf die ungeheuerlichen kakophonischen Zuspitzungen in ,Ondes de sang' und ,Borée' und arbeiten sich mit grellem Pfeifen zumindest symbolisch zu der Grenze vor, an der für das menschliche Ohr Schluss ist. Vor ,Je rassemblais tes membres', den gleich zu Beginn perfide wimmelnde Sounds, gehen beschreibende Worte schnell in die Knie; unter stoischen Pauken wird der Klangraum in einem ewigen An- und Abschwellen vollends ausgefüllt -- und ist plötzlich, sieht man vom Flüstern und den weinenden, klagenden Schreien ab, für kurze Zeit beinahe gänzlich leer. Den ergreifenden Auftakt zu ,La Carriére d'ombre' hätte Henryk Górecki (besonders "Symphonie No. 3") kaum anders arrangiert. Der offensichtliche Schönklang erweist sich indes als trügerisch; entfesselte Pauken und Streicher drängen die Schönheit zurück unter die Oberfläche, wo sie als schwelende Andeutung gebunden bleibt. Zischelnden und zitternden Stimmen überführen in das asketische, bloßen Schwingungen abgetrotzte Stück ,J'ai touché aux confins de la mort', dessen unheimliche Stille im Angesicht der großflächig gestreuten Schock-Momente im Schlusssatz ,Urserpens' fast licht klingt. Erst danach bemerkt man, dass man beim Hören vor Anspannung die ganze Zeit den Atem angehalten hat.
(MT) 15 Punkte