Interview mit Marcel Tilger für Legacy
Kannst du beschreiben, wie ihr beim Komponieren vorgeht? Zwar klingen viele der neuen Stücke im Kern ziemlich reduziert auf einige wesentliche Elemente. Aber trotzdem bleibt Sunwar The Dead für einen Außenstehenden wie mich ein ziemlich komplexes Werk. Wie gelingt es euch, den Überblick zu behalten? Gerade auch vor dem Hintergrund, dass ihr heute im Grunde alles bei ELEND selbst in den Händen haltet, die Gestaltung entwerft, selbst produziert, selbst mixt, selbst aufnehmt...
Renaud Tschirner: Die Unabhängigkeit macht alles viel einfacher. Wir müssen nicht mehr jede Entscheidung, die wir treffen, zur Begutachtung vorlegen. Das Schwierigste ist organisatorischer Natur. Das Komponieren an sich fällt zwar immer leichter – wobei ich immer weniger in dieser Phase mitwirke – aber der Rest, das Abmischen z.B., wird fast undurchführbar. Ein Elend-Album kommt mit nur 2-3 Wochen Kompositionsarbeit aus, aber ein Album wie Sunwar the Dead benötigt ein halbes Jahr Aufnahmen und Abmischen. Selbst wenn The Umbersun dichter klingen mag, so ist Sunwar the Dead sicher das komplexeste Album von Elend. Komplexität bedeutet nicht nur bis an die Grenzen getriebene orchestrale Masse; ich würde eher dazu tendieren, das Gegenteil zu behaupten: Komplexität liegt in der subtilen Anordnung von Details.
Wie kann man dieses ungeheure Arbeitspensum überhaupt bewältigen, wenn die Kunst nicht das ist, was einen ernährt?
Das ist eine sehr gute Frage... ohne Antwort.
Hast du es jemals bereut, dich für die Musik als Ausdrucksmittel entschieden zu haben?
Nein, denn es war nie eine Entscheidung, die anderes ausschließt. Ich mache seit über zehn Jahren Fotografien. Und selbst in Elend arbeiten wir auch sehr viel mit Bild und Text.
Maynard James Keenan, der Sänger der amerikanischen Band Tool, hat kürzlich in einem Interview Musik als eine Art Mathematik beschrieben, weil sie auf einem relativ logischen System fußt, das, je nach Kombination, beim Hörer ziemlich vorhehrsehbare Reaktionen auslöse. Trifft das deinen Ansatz? Seid ihr euch während des Schaffens bewusst, wie das, was unter euren Händen entsteht, aufgenommen werden wird? Arbeitet ihr dabei dann vielleicht ganz vorsätzlich mit Mitteln, die bestimmte Assoziationen hervorrufen?
Musik als Mathematik zu bezeichnen ist eine Reduktion, die ich sicherlich nicht unterschreiben werde. Selbst wenn Komponieren eine Angelegenheit ist, die ich nüchtern betrachten kann, wie ein Handwerk, das bestimmten Regeln gehorcht, so klammert diese Sichtweise viel zu viel aus. Beim Komponieren weiß man natürlich, welche Auswirkungen bestimmte Harmonien, Tonfolgen, Rhythmen usw. haben können, aber das alleine macht nicht die Wirkung von Musik aus. Aus der Sicht von Tool wird diese Überlegung natürlich funktionieren... denn so viel geschieht in der Musik von Tool nicht, weder strukturell noch harmonisch, und vor allem nicht klangfarblich. Tool ist, wie jedes andere Musikprojekt auch, nur so lange interessant, wie seine künstlerische Individualität spürbar ist und in der Popszene noch nicht Gehörtes bietet. Wenn sich auf jeder Veröffentlichung diese persönliche Note immer nur wiederholt (besonders bei einer Besetzung mit einer fixen Instrumentierung, die sich durch mehrere Alben hindurch fortsetzt) – wenn auch mit Variationen und Abweichungen – dann kommt man mit der Anwendung von einfachen Formeln, meinetwegen mathematischer, mit Gewissheit zu einem einfach berechenbaren Ergebnis. Aber dass gerade Tool mehr mit Theorie als mit Praxis arbeiten ist überhaupt nicht glaubhaft. Außerdem ist dieser Ansatz trotz der Betonung der Abstraktion mit der Annahme verwandt, dass unterschiedliche Tonarten unterschiedliche Gefühle hervorrufen; die Übernahme dieser Annahme aus obskurantistischen Zeiten ist anachronistisch und reaktionär. Elend arbeitet natürlich bewusst mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, um eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen, aber auf der rein abstrakten Ebene ist dies nicht vollkommen durchführbar. Was die erstmalige Kombination disparater Elemente, die das Ohr in einer bestimmten Verbindung nicht kennt, ergibt, kann erst durch die eigentliche Erprobung, den echten Klang, nicht durch die bloße Theorie der sich überlagernden und ergänzenden Frequenzen, erfasst werden.
Ihr habt auf eine sehr intensive Weise das Gegeneinander von sehr monumentalen und sehr reduzierten Klängen erreicht. Während in der Officium Tenebrarum-Trilogie beides in einander aufzugehen schien, bleiben Spannungsfelder jetzt erhalten. Worin besteht für dich die Ästhetik von Klängen, die man wohl objektiv als Krach bezeichnen müsste?
Für sich alleine genommen ist Lärm musikalisch uninteressant. Sein ästhetischer Wert kann erst durch die Kombination mit ihm entgegengesetztem Material zur Geltung kommen
Also macht der Kontrast die Spannung von Musik aus?
Ja, unter anderem.
Habt ihr euch beim Komponieren jemals an dem Punkt gewähnt, wo ihr an der Schwelle zum Verlust der Musik standet?
Verlust der Musik, weil von bloßem Lärm vertrieben? In Elend nicht, nein...
Betrachtet man Officium Tenebrarum retrospektiv, so fällt auf, wie sehr ihr die auf dem ersten Album eingeführten Elemente mit jedem weiteren verdichtet, eindringlicher gemacht habt. Nach The Umbersun kam dann der Rückzug aus ELEND. Und jetzt – das Verhältnis der bisher erschienenen Arbeiten zueinander deutet es an – verfahrt ihr wieder ganz ähnlich: atmosphärisch wirkt Sunwar The Dead, obgleich auf vertrauten Klangfarben fußend, um ein Vielfaches gewaltiger. Ist das ein natürlicher Drang in euch, sich und die Kunst zu steigern?
Es geht darum, neue Experimente zu machen, nicht bessere. Ich bin etwas verwundert, dass der Eindruck zu entstehen scheint, dieses Album klinge vertraut; ich finde, dass hier auf der Ebene der Klangfarbe wirklich Neuland betreten wurde. Erstens in Bezug auf Elend selbst (was ich auch für Winds Devouring Men behaupten möchte, aber nicht für The Umbersun), zweitens in Bezug auf den heutigen Musikmarkt.
Was reizt euch generell daran, euer musikalisches Schaffen in Zyklen anzulegen? Die Möglichkeit, eine Vision lyrisch und musikalisch wirklich ausreizen, sie von unterschiedlichen Seiten aus beleuchten zu können?
Richtig. Eine Stunde Musik reicht dazu nicht aus.
In den Gesprächen die du vor bald zwei Jahren führtest, hast du oft schon auf Sunwar The Dead verwiesen, darauf, dass es an Gewalt einiges auf die Spitze treiben würde. Inwieweit wusstet ihr bereits während Winds Devouring Men wie Sunwar The Dead klingen sollte? Steht bereits das Grundgerüst für den gesamten Zyklus?
Selbstverständlich. Nur war uns beim Zusammenstellen von Winds Devouring Men nicht klar, dass es 5 Alben werden. Das hat sich erst knapp vor der Veröffentlichung herausgestellt. Es war von Anfang an klar, dass der erste Teil ruhiger sein musste, um von einem höheren Tempo abgelöst zu werden. Die Gewalt, die auf Sunwar nur durchscheint, weist den Weg zu weiteren, wirklich beklemmenden und brutalen Musikstücken, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Es sollte dem Leser, der mit dem Offizium vertraut ist, aber klar sein, dass wir nicht dessen lineare Struktur wiederholen: Es geht hier nicht darum, mit jedem Album brutaler und bedrohlicher zu werden. Wie ich es bereits letztes Jahr angekündigt habe, wird die Subtilität der Struktur des neuen Zyklus erst mit dessen Ende offensichtlich werden.
ELEND haben stets außerordentliche Dunkelheit beschworen. Nun steckt im Titel der neuen Platte die Sonne, freilich mit einem Bezug zur Gewalt, zur Dunkelheit. Ferner blendet das Cover jeden Kontrast aus: Das gleißende Licht ist in seiner Essenz ebenso unheimlich und vernichtend wie die atemberaubende, finstere Gestaltung des Winds Devouring Men-Albums. War das eine Art konzeptuelles Leitmotiv für euch, zu zeigen, dass die Finsternis im Licht inbegriffen ist?
Ich glaube, dass sich Iskandar Hasnawi über diese Einsicht freuen wird.
Inwiefern setzt Sunwar The Dead Winds Devouring Men auf lyrischer Ebene fort? Geht die Irrfahrt weiter?
Es handelt sich bei dem Gedicht, das Winds und Sunwar zugrunde liegt, um denselben Text. Obwohl die Handlung recht frei ist, ist sie in groben Zügen gut nachvollziehbar. Winds war ein ruhiges Album über das Warten, den Traum, eine innere Odyssee, die der äußeren Entfesselung von elementaren Kräften entgegenwirkte. Sunwar ist ein episches Album über eine Welt, die von Gewalt regiert wird; wo das Chaos eine anziehende Kraft ist, aber noch keine ordnende.
Wenn ich nicht irre, war textlich Hasnawi immer der dominantere Part. Woran liegt das? Wären die Ansprüche, die du an deine Texte stellen würdest, zu hoch?
Keineswegs. Elend entstammt seiner Feder, und jeder signifikante fremde Einfluss würde ihn seiner Originalität berauben. Die Lage ist klar: in Elend schreibe ich keine Texte. Die lateinischen Stellen im Offizium beruhten ebenfalls größtenteils auf Hasnawis Vorgaben. Die Übersetzung, Versifizierung und Rhythmisierung kam dann von mir.
Winds Devouring Men wurde von einem griechischen Zitat angeführt; im Laufe der Existenz ELENDs spielten Französisch, Deutsch und Latein ein Rolle, obschon die englische Sprache immer noch die ist, in der ihr euch am weitreichendsten ausdrückt. Setzt ihr Sprache in ELEND ebenfalls ganz bewusst als einen Klangkörper ein?
Mehr denn je.
Gibt es noch musikalische Leitbilder für ELEND, Menschen, an denen ihr euch orientiert? Oder schöpft ihr dieser Tage mehr denn je aus euch selbst heraus?
Es gibt natürlich Komponisten, Maler, Autoren, die wir sehr schätzen. Aber ich glaube nicht, dass der Begriff "Leitbild" zutrifft. Wahrscheinlich ist die Annahme richtig, dass wir, nachdem wir die ganze westliche Musiktradition im Offizium bearbeitet hatten, uns von deren gewichtigen Referenzen lösen mussten.
Stets seid ihr darum bemüht gewesen, euch einen ansehnlichen Equipment-Fundus anzueignen; das eigene Studio, das ihr euch inzwischen eingerichtet habt, verdeutlicht das. Fühlst du manches Mal, dass ihr euch bis zu einem gewissen Grad von der Technik abhängig gemacht habt?
Sicherlich. Ohne Technik wäre dies alles niemals zu bewältigen (der gesamte Musikbetrieb ist heutzutage ohne Technik eigentlich nicht denkbar). Wir sind keine Genies wie Richard Strauss, Penderecki oder Scelsi. Wir hören die Musik nicht in jedes einzelne Instrument zerteilt, inklusive aller Partituren im Kopf. Unsere Arbeitsweise ist recht empirisch: wir müssen vieles erst erproben, bevor wir es umsetzen können, und das ist nur durch Technik möglich. Das heißt aber nicht, dass man am Beginn der Arbeit an einem Stück keine präzise Vision von ihm haben oder seine Wirkung nicht einschätzen kann.
Werden das Ensemble Orphique und Statues irgendwann vollständig in ELEND aufgehen? Eure Entwicklung deutet immerhin darauf hin, dass ihr in der Tat immer extremer und extremer werdet – und das, was alle mögliche Konnotationen betrifft. Ihr habt einiges – etwa in einem Metal-Stil verwendete Gitarren – von vornherein kategorisch ausgeschlossen; auf vielen Feldern seid ihr weit vorgestoßen, so dass zumindest für den Außenstehenden vorläufig eine Grenze erreicht scheint. Welche Mittel siehst du noch, Gewalt musikalisch auszudrücken? Welche handwerklichen Herausforderungen gibt es noch?
Der Eindruck täuscht. Der neue Zyklus ist nicht wie das Offizium eine sich "steigernde" Entwicklung, selbst wenn es jetzt noch danach aussehen mag. Gewalt in der Musik sollte nicht nur auf eine bestimmte Art des Klanges angewandt werden. Wie du es oben bereits erwähnt hast, ist Kontrast und Spannung das ausschlaggebende. Jeder kann so wie Merzbow Lärmorgien produzieren. Man braucht dazu im Grunde nur immer mehr Lautstärke und ein ganz bestimmtes, ziemlich beschränktes Klangspektrum. Bei Elend geht es um andere Dinge als bei unseren anderen Projekten. Im Gegensatz zu Elend verschärft sich die Arbeit an Ensemble Orphique von Jahr zu Jahr. Was wir dort erproben sieht immer mehr nach "Work in Progress" aus; es hat mit Elend und Nachvollziehbarkeit wenig zu tun. Wenn wir die Musikindustrie betrachten, und insbesondere die Rezeption von Elend-Alben, die für unsere Verhältnisse äußerst eingängig und nachvollziehbar sind, ist es wirklich fraglich, wer denn so etwas wie Ensemble Orphique veröffentlichen würde. Denn für so etwas Radikales ist dort kein Platz. Wenn wir deshalb die Aufnahmen selbst finanzieren, was wir bei Sunwar nur teilweise machen mussten, wird sich die Produktion der vorgesehenen Stücke über mehrere Jahre erstrecken.