Interview mit Michael Kuhlen für Obliveon

1.) Zwischen den Veröffentlichungen von The Umbersun und Winds Devouring Men liegen fünf lange Jahre. Was waren die Gründe für diese lange Pause? Ich schätze, viele Fans wähnten Elend bereits als aufgelöst.

Renaud Tschirner: Wir hatten anfangs nicht vorgehabt, unsere Zusammenarbeit unter demselben Namen fortzuführen, nachdem der Offizium-Zyklus beendet war. Die enge Verbindung von Elend und dem Offizium machte es schwierig, diesen Begriff für Konzepte zu verwenden, die ihm thematisch fremd waren. Dennoch haben wir nie aufgehört, gemeinsam an anderen musikalischen Projekten zu arbeiten. Im Zuge dieser Arbeit entstand die musikalische Linie, an der sich der neue Zyklus orientiert, ohne mit der Persönlichkeit von Elend zur Zeit des Offiziums zu brechen. Trotz der hörbaren Unterschiede blieb die Kontinuität zu den früheren Alben erhalten. Die lange Pause hat damit zu tun, dass wir unsere Homestudios aufbauten. Erst dadurch wurde es möglich, unabhängig von Riesenbudgets sinnvoll an unserer Musik zu feilen.

2.) Liegen die Gründe für diese Pause vielleicht auch in der räumlichen Entfernung, die konventionelle Arbeitsweisen und Bandproben sicherlich sehr schwierig macht und der Tatsache, dass Elend eine multinationale Band sind?

Auf keinen Fall: die Tatsache, in der Entstehungsphase unserer Alben unabhängig voneinander arbeiten zu müssen, war seit unseren Anfängen niemals ein Problem. Im Gegenteil: es schärft eher die gemeinsame Komposition. Teile des neuen Albums wurden in österreich, andere in Frankreich aufgenommen. Es gibt keine Proben im herkömmlichen Sinn; sie wären überflüssig. Unsere Instrumentalisten sind erstklassige Musiker, denen wir die Partituren zukommen lassen, bevor sie die Stücke einspielen. Improvisationen sind willkommen, doch selten notwendig. Wir sind gut organisiert; jeder hat seine Kompetenzen und damit seine fixe Aufgabe.

3.) Während die Office de Ténèbres-Trilogie ein Ausloten musikalischer Extreme in nahezu allen musikalischen Belangen war, klingt Winds Devouring Men zwar immer noch düster, in seiner musikalischen Ausrichtung aber nicht mehr so ganz fatalistisch und vergleichsweise sogar mit einer gewissen Leichtigkeit versehen. War dieser "Stilwechsel" (wenn ich das mal so nennen darf) bewusst so angelegt?

Ja. Wir haben uns bewusst von gewissen Aspekten der ernsten Musik getrennt: Die Instrumentierung orientiert sich zwar immer noch an der westlichen Musiktradition, aber es wurden viele neue, ihr fremde Instrumente integriert. Die Strukturen der Stücke befinden sich näher an der populären Musik als früher. Man kann die neuen Stücke viel eher als "Songs" verstehen als die langen, ineinander übergehenden Kompositionen der letzten Alben. Die "Leichtigkeit" auf Winds Devouring Men war intendiert: es geht in diesem neuen Zyklus um andere Dinge als früher. Im Gegensatz zum Offizium, wo jedes Album Teil eines immer dichter und brutaler werdenden Strudels sein musste, um schlussendlich im vollkommenen Nichts zu enden, folgt der neue Zyklus ganz anderen Kriterien. The Umbersun strömte durch die orchestrale Dichte, die Schreie und das konstante, intensive Niederprasseln der Dynamik eine für den Abschluss des Offiziums notwendig bedrückende Atmosphäre aus. Das neue Album atmet, es orientiert sich am Menschen, an einer "Gott-losen", tragischen Weltauffassung, im Gegensatz zur Welt des Offiziums, die von einem Gott der Vergeltung geprägt war. Ich bin aber der Ansicht, dass trotz der melancholischen Grundstimmung die Gewaltausbrüche auf diesem Album die extremsten sind, die wir bisher im Rahmen von Elend veröffentlicht haben.

4.) War es vielleicht auch so, dass ihr nach der langen und intensiven Beschäftigung mit dem Ausloten der Finsternis dieses Konzeptes überdrüssig gewesen seid und bewusst nach anderen musikalischen Ausdrucksformen gesucht habt?

Wir haben unser Programm zu Ende geführt, das ist alles. Man darf nicht vergessen, dass sich unsere musikalischen Aktivitäten nie auf Elend beschränkten. Das, woran wir unabhängig voneinander arbeiten, liefert die notwendige Abwechslung, deshalb kann man auch nicht von überdruss sprechen. Der Offizium-Zyklus behandelte extreme Gewalt und bedrückende Dunkelheit auf eine mögliche Art; wir sehen keinen Sinn darin, außerhalb dieses Kontextes auf altbewährte Rezepte zurückzugreifen. Dieser neue Zyklus soll einen anderen Aspekt der Gewalt und Finsternis in der Musik zeigen. Es handelt sich dabei wiederum um Musik, deren Eigenart es ist, nur durch die Möglichkeit des gemeinsamen Interesses und der gemeinsamen Arbeit überhaupt erst zu entstehen.

5.) Ein weiterer Hinweis auf diese These könnte auch das lyrische Fundament von Winds Devouring Men sein, wo in dem Gedicht Iskandars die - ich zitiere die Info der Plattenfirma - "...eine Odyssee (Heimkehr) beschreibt, die persönliche Themen mit Referenzen auf das antike Epos... verbindet."

An diesem Text arbeitet er mindestens seit 1997; er war ursprünglich nicht zum Vertonen gedacht. Während der Entstehungsphase der Stücke des neuen Zyklus schlug er vor, diesen Text als Basis zu verwenden, da wir keinen textlichen Rahmen besaßen. Es hätte durchaus ein Instrumental-Album werden können. Sobald entschieden war, dass dieser Text mit einbezogen werden würde, wurde innerhalb des vorhandenen musikalischen Materials weiter selektiert und der neue Zyklus ausgearbeitet.

6.) Vielleicht kannst du / könnt ihr das lyrische Konzept des Albums noch etwas ausführlicher erläutern. Stellt jedes Lied des Albums ein musikalisches Kapitel und einen Teil dieser Odysse dar? Quasi eine Art Weltreise, bei der der Protagonist immer wieder neue Erfahrungen macht?

Ich glaube, man kann es durchaus so sehen, wenn man will. Ich kann nur auf die Odyssee selbst verweisen. Wie ich es bereits vorhin angedeutet habe, ist dieser "Protagonist" Teil einer Welt, die von Kräften jenseits seines Verständnisses regiert wird. Zeit, Krieg, die Elemente: eine tragische Welt.

7.) Woher stammt die Inspiration für dieses Gedicht, das zur Grundlage des Albums wurde? Persönliche Reiseerlebnisse, oder das Gefühl einer mentalen Rückkehr in bestimmte psychische Bewusstseinszustände, so nach dem Motto "die Ruhe nach einer Phase der inneren Aufgewühltheit wiedergefunden zu haben".

Ich kann stellvertretend für den Autor nur wenig darüber sagen, aber man kann die Inspiration sicher auf keinen Fall in persönlichen Reiseerfahrungen finden. Die Reise, die beschrieben wird, ist eine innere. Die Einflüsse meines Kollegen aufzulisten, dürfte schwierig sein, bis auf die offensichtlichen: Homer, Aischylos, Donne, Coleridge, Blake, Eliot, Pound, Perse. Die Bemerkung, die Ruhe gefunden zu haben, mag teilweise zutreffen, wobei man sich nicht täuschen lassen sollte. Die im Text behandelte Reise ist keinesfalls eine ruhige, wie sich noch zeigen wird, oder wie die Bezeichnung "Odyssee" und manche Passagen auf dem aktuellen Album bereits andeuten.

8.) Wie siehst du / seht ihr die musikalische Entwicklung der Band und die Unterschiede zwischen den früheren Veröffentlichungen und Winds Devouring Men? Wenn ich mich recht entsinne, arbeitet ihr erstmalig auch mit musikalischen Elementen, die man eher im Industrial ansiedeln würde ("Under War-Broken Trees"/"Away From Barren Stars"):

Wir haben bereits auf The Umbersun ansatzweise Elemente verwendet, die man entfernt als Industrial bezeichnen könnte. Eigentlich sind sie auf dem ganzen Album hörbar, besonders in den Stücken 3-7. Ich denke vor allem an den Schlussteil des zweiten Nocturne, oder an den zweiten Répons. Die dezente Verwendung deshalb, weil wir im Rahmen der westlichen E-Musiktradition bleiben mussten. Wir kennen die Industrial-Szene - nicht wie Experten, aber immerhin gut genug, um zu wissen, was sich dort tut. Interessante Projekte gibt es nur wenige, das meiste ist nur langweilig. Das Hauptproblem ist, dass die meisten unfähig sind, ihre guten Ideen intelligent zu verwerten. Unsere Referenzen liegen nicht dort, sondern in der zeitgenössischen ernsten Musik, das heißt dort, wo das Offizium endete. Wir kreieren die Geräusche und Klänge, die wir verwenden, selbst, so wie es bei ernstzunehmenden Industrial-Projekten oder in der ernsten Musik der Fall ist. Im Gegensatz zu denjenigen, die vorgefertigte Samples verwenden, um "modern" zu klingen, suchen wir ständig nach neuen, mit unserem Programm vereinbaren Ausdrucksmitteln abseits von Trends.

9.) Ich vermute, manche der Kritiken zu Winds Devouring Men werden Parallelen zu einer Band wie Dead Can Dance ziehen. Kannst du / könnt ihr diesen Vergleich zumindest in Ansätzen nachempfinden? Würdest du / würdet ihr diesen Vergleich als Kompliment oder als ungenügende Würdigung Eurer Arbeit betrachten?

Es gäbe schlimmere Vergleiche als Dead Can Dance! Wir schätzen ihre Alben sehr, und sind uns im Klaren darüber, dass Ähnlichkeiten bestehen, wobei ich auf fundamentale Unterschiede hinweisen sollte. Sowohl ihre Art, Musik zu schreiben, als auch der Klang ihrer Produktionen sind unserem Ansatz entgegengesetzt. Die Musik von Elend war immer, sowohl harmonisch als auch strukturell, dramatisch und komplex, was mit unserer engen Beziehung zur ernsten Musik zusammenhängt. Dead Can Dance waren mehr um Verständlichkeit, Eingängigkeit bemüht, selbst wenn sie exotische oder unkonventionelle Instrumente verwendeten. Ich glaube, dieser Unterschied ist für jeden offensichtlich, der mit der Musik beider vertraut ist. Außerdem ist der Klang von The Umbersun oder Winds Devouring Men (ich muss mich hier wirklich auf die letzten Alben beschränken, denn die geringen Budgets, die wir für die ersten Produktionen bekamen, erlaubten es uns nicht, zu einem zufrieden stellenden Ergebnis zu gelangen) nicht klinisch wie der aller Dead Can Dance-Alben. Wie dem auch sei, Dead Can Dance spielten in der Entwicklung der populären Musik eine wichtige Rolle. Die seither etablierte Verwendung einer teils zeitgenössischen, teils archaischen Instrumentierung mit Referenzen auf die vergangenen Jahrhunderte zu einer Zeit, in der sich alles nur um Elektronik drehte, sollte nie vergessen werden. Wir verdanken dieser Art der musikalischen Arbeit vieles - aus diesem Grund führten wir Dead Cand Dance in den Credits des ersten Elend-Albums an. In dieser Beziehung waren sie Pioniere, was wir auf keinen Fall sind. Die Ähnlichkeit zwischen unserem Lead-Gesang und der Stimme Brendan Perrys wird ebenfalls oft hervorgehoben. Hier muss ich wahrscheinlich zustimmen; es gibt gewisse Aspekte, in denen sie sich sehr nahe sind. Besonders die Tatsache, dass wir nun die gesungene Männerstimme so zentral einsetzen, trägt zu dieser Auffassung bei, denke ich. Auf den früheren Alben war sie bereits präsent, aber nicht in einer so expliziten Form.

10.) Auch Winds Devouring Men ist eine konzeptionelle Arbeit. Ist solch eine konzeptionelle Arbeitsweise die für Elend beste Methode künstlerischer Arbeit, oder könnt ihr euch auch vorstellen ein Album frei von den Zwängen konzeptioneller Grenzen zu veröffentlichen?

Bei der Arbeit zu zweit kann es hilfreich sein, Normen festzulegen, innerhalb derer man sich zu bewegen verpflichtet. Ein Konzept fungiert dann als eine Art Rahmen, an dem man sich orientieren kann. Ich weiß, dass ich außerhalb solcher Grenzen arbeiten kann. Für Elend hat sich diese Frage aber noch nie gestellt.

11.) Wenn du mit dem Abstand von bis zu neun Jahren - Leçons de Ténèbres erschien 1994 auf die Trilogie zurückblickst, wie würdest Du diese aus künstlerischer Sicht heute bewerten? Gibt es Dinge, die du / die ihr verändern würde(s)t?

Im Rückblick finde ich es schade, dass wir nicht gleich viel Budget für die ersten Alben wie für The Umbersun erhalten haben.

12.) Wie hat diese Trilogie euch als Menschen verändert?

Falls es Veränderungen gibt, dann in unserem Umgang mit dem Milieu. Mit Plattenfirmen zu verhandeln, mit dem kommerziellen Denken und dem Musikmarkt konfrontiert zu sein, hat uns sicher auf eine bestimmte Weise geformt und uns darin bekräftigt, uns so weit wie möglich von dieser Welt fernzuhalten.

13.) In einem ersten Interview, das wir 1998 anlässlich der Veröffentlichung von The Umbersuns geführt haben, kam das Gespräch auch auf einige musikalische Nebenprojekte. Damals wolltest du / wolltet ihr allerdings nicht darüber reden. Kannst du / könnt ihr heute einige Informationen darüber geben?

Was ich damals angesprochen habe, war in erster Linie ein anderes unserer gemeinsamen Projekte, Ensemble Orphique. Ursprünglich hätte dies der unmittelbare Nachfolger zu Elend sein sollen, aber die umfangreiche Arbeit daran ist immer noch nicht vollendet. Man muss sich diese Musik als avantgardistische E-Musik an der Grenze zur zeitgenössischen Komposition und Klangforschung vorstellen. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass es sich nicht lohnt, im Detail über nicht veröffentlichte Projekte zu sprechen.

14.) Wenn ich mich recht entsinne, sind Elend bislang nur einmal live aufgetreten. Wird es zu Winds Devouring Men Konzerte oder gar eine komplette Tournee geben?

Wohl kaum. Konzerte sind mit einem zu großen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden. Wir hätten zwar nichts gegen ein paar Auftritte in ausgewählten Sälen mit guter Akustik, aber das Budget wäre nicht tragbar. Es müssten sich wenigstens unsere Kosten decken, aber das scheint nicht möglich zu sein. Tourneen kommen erst recht nicht in Frage: sie sind organisatorisch leider nicht umsetzbar, denn wir haben bereits viel zu wenig Zeit, alle unserer musikalischen Projekte zu koordinieren, um uns darüber hinaus für Wochen auf eine anstrengende Tournee zu begeben.