Interview mit Nicki Vassilev für Wallsoffire
Jeder wahre Dark-Musik Hörer soll mindestens eines der Alben der französisch-österreichischen Formation ELEND genossen haben. Eigentlich handelt es sich nicht um drei unabhändige CDs, sondern um eine Trilogie - ELENDs Blick auf das so genannte "Officium Tenebrarum", das aus Leçons de Ténèbres (1994, Holy Records), Les Ténèbres du Dehors (1996, Holy Records) und The Umbersun (1998, Music for Nations) besteht. Anfang 2002 sprach einer der zwei Hauptkomponisten und Mitglieder des schon aufgelösten Projekts ELEND, der österreichische Musiker Renaud Tschirner, über diese einzigartige Band.ELEND - Der Anfang
Die Idee des Projektes geht auf 1993 zurück. Gegründet von den beiden Komponisten Iskandar Hasnawi und mir selbst. Im Laufe der Zeit wurde die Besetzung durch zusätzliche Mitarbeiter erweitert. Die kompositorische Arbeit begann bald nach der Gründung - es ist inzwischen schwierig nachzuvollziehen, wann genau. Wahrscheinlich im Laufe des Jahres 1993, wobei sich mit Sicherheit erst 1994 konkretes musikalisches Material herauskristallisierte.
ELEND - Iskandar Hasnawi
Was in ELEND geschah, beruht auf einer gemeinsamen Arbeit, die durch das Zentrieren der Aufmerksamkeit auf meine Person nur zu Unrecht geschmälert würde. Iskandar Hasnawi war immer der eigentliche Motor des Projekts. Von ihm stammen die Grundideen, sowohl für Konzept als auch für Text und Instrumentierung.
ELEND - Die Geschichte
Wir haben bereits in frühen Interviews immer wieder betont, dass wir innerhalb der instrumentalen Normen der E-Musik einen Grad an Schwärze und dramatischer Spannung zu erreichen strebten, wie es ihn in dieser Musikform kaum gibt, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. In ELEND ist die Schwärze Programm. Es traten ab dem späten 19. Jahrhundert immer wieder Komponisten auf, die sich zwar damit auseinandersetzten, aber die musikalische Gewalt und Brutalität nie konsequent und kohärent durch ein ganzes Werk führten.
Die Tatsache, dass wir die menschliche Stimme ähnlich einsetzten, wie es im extremen Metal üblich ist, hat uns wahrscheinlich geholfen, im Metalbereich Anhänger zu finden. Unser erstes Label Holy Records war - genau wie Music for Nations - eine Metalplattenfirma.
ELEND wurde immer als bi-nationales Projekt vermarktet und in gewisser Weise mit Recht; bis auf mich leben alle Mitarbeiter in Frankreich. Für jedes Album erfolgte die erste Phase der Komposition unabhängig voneinander, bevor das Material gemeinsam ausgewertet wurde. Das grobe Gerüst (das fragmentarisch bestehende Textkonzept und damit die Struktur des Albums sowie der einzelnen Musikstücke, der Texte und des Layouts) stand einigermaßen fest, als ich dann für die Dauer der weiteren Komposition und Proben nach Frankreich zog, um das Album fertigzustellen. Die Aufnahmen fanden immer in unterschiedlichen Studios statt.
ELEND - Orchestrale Keyboards
Der einzige Ausweg, wenn man sich keine klassischen Instrumentalisten leisten kann. In ELEND hatten wir begonnen, synthetisch generierte Klänge mit echten Instrumenten zu koppeln. Mit der Zeit sind wir (aus zeitlichen, also finanziellen Gründen) immer mehr von der "authentischen" Instrumentierung abgekommen. The Umbersun ist ein gutes Beispiel: die Stimmen des Chors und unsere eigenen wurden eingesungen, sonst kommt die gesamte Musik aus elektronischen Geräten. Das heißt nicht, dass nichts eingespielt wurde. Manches muss programmiert werden, manches muss manuell eingespielt werden. Der Großteil der Arbeit in der Vorproduktionsphase vergeht mit Programmieren. Viele wissen nicht wirklich, was Sampler sind: es handelt sich bei Samples nicht bloß um ganze Phrasen, Passagen, Riffs aus bereits bestehenden Aufnahmen, wie sie in der elektronischen Musik verwendet werden. Jeder weiß, wie ein Keyboard oder Synthesizer funktioniert. Man stelle sich einfach vor, dass jeder synthetische Klang eines Synthesizers genau so gut wie der authentische Klang eines Instrumentes sein kann, der vorher Ton für Ton aufgenommen wurde. Ein Sampler liest solche Klänge genauso wie ein Synthesizer künstlich generierte Klänge lesen würde.
ELEND - Das Ende
Wir haben uns bald nach der Veröffentlichung von The Umbersun (Mai 1998), aufgelöst, da uns klar wurde, dass das Projekt ELEND nach Vollendung des über drei Alben reichenden Konzeptes nicht mehr existenzberechtigt war. Wir hatten die Gruppe in Verbindung mit der Idee des Offizium-Zyklus gegründet und auch entsprechend benannt.
Es war einerseits nicht vertretbar, unter demselben Namen eine komplett neue Richtung einzuschlagen und andererseits war es zwecklos zu versuchen, noch weiter in die gleiche Richtung vorzudringen. Mit den uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln wäre es lächerlich gewesen zu versuchen, im gleichen Instrumentalgewand noch weiter zu gehen. Wir hatten unser Ziel erreicht. Ich empfehle dieses Album wirklich jedem, der Interesse an extrem bedrohlicher Musik hat. Ich gehe davon aus, dass es in jedem Metal-Hörer wenigstens 1% Interesse an echter Musikgewalt gibt. Das, was sonst geboten wird, insbesondere von Leuten, die sich brüsten, am extremsten Musikstil aller Zeiten teilzunehmen, ist wirklich lächerlich. The Umbersun war zwar Platte des Monats im "Orkus", aber ich erinnere mich noch genau an die Kritik im "Ablaze-Magazin": "Neben symphonischen Elementen ertönen aber auch abgedrehte Industrial- und Percussion-Sounds, die mir zu extrem klingen. Diese monströsen, bedrückenden Kompositionen sind wirklich anstrengend."
Wir haben selten so gelacht. Für uns, die beiden Komponisten, ist diese CD nicht mehr als eine Etappe. Sie ist wahrscheinlich anstrengender zu hören als vieles andere, aber der extremste musikalische Punkt ist noch lange nicht erreicht.
Dazu kommt, dass Music for Nations unsere Option auf weitere Alben nicht aufgriffen. Unser Vertrag hätte es uns ermöglicht, unter demselben Namen weitere CDs aufzunehmen. Wir spielten vorübergehend mit dem Gedanken, doch sahen bald ein, dass es im Fall einer Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit einer komplett neuen Grundidee bedurft hätte, sowohl theoretisch (was den konzeptuellen Rahmen angeht) als auch praktisch, musikalisch (z.B. welche Instrumentierung zu wählen sei). Wir waren nie an einer Karriere interessiert.
Letztes Jahr haben Holy Records unser zweites Album Les Ténèbres du Dehors mit unserem Einverständnis neu veröffentlicht. Es beinhaltet einen Bonus-Track, der damals gleichzeitig mit den übrigen Stücken aufgenommen wurde. Das Layout wurde ebenfalls überarbeitet. Wenn man sich zurückerinnert, war diese CD durch ihre besondere Stellung im Offizium-Zyklus einerseits kontemplativ, andererseits besonders aggressiv und dynamisch. Textlich ging es um Luzifers Traum von Revolution nach dem Sturz. Musikalisch umgesetzt bedeutete dies, ätherische Passagen mit immer wiederkehrenden Gewaltausbrüchen zu verbinden, im Gegensatz zum ersten Album, auf dem wir vor allem auf Melancholie Wert legten, und zum letzten, in dem die Bedrohlichkeit und Leere des Todes aufbricht.
Wir entschieden uns damals für sanfte, verträumte Farben, die von schwarzen und feurigen Blitzen durchzogen wurden, um den Gegensatz zum ersten Album, das in Rot und Gold eingebettet war, zu verdeutlichen. In der früheren Auflage war Les Ténèbres du Dehors betont blau und schwarz, mit teils grauer, teils goldener Schrift. In der Neuauflage haben wir durch die zentrale Verwendung von Rot und Schwarz den anderen Aspekt hervorgehoben. Ich glaube, dass viele Hörer im Nachhinein, das heißt nach dem Erscheinen des letzten Albums des Zyklus, diese Musik dadurch anders wahrnehmen können.
Die Form, in der das Album ab jetzt erhältlich ist, entspricht insofern mehr unserer damaliger Vorstellung, als der Bonus-Track Teil des Konzeptes ist. Wir willigten damals ein, einen unveröffentlichten Track für eine Holy Records Unreleased-Compilation CD mit kleiner Auflage bereitzustellen. Aus diesem Grund hat der Großteil der öffentlichkeit das Stück "Birds of Dawn" nie zu Gehör bekommen.
Die Illustrationen Gustave Dorés zu jedem einzelnen Stück sind selbstverständlich beibehalten worden, wobei auch hier die ursprünglich von uns geplante Anordnung verwendet wurde. Es befindet sich also auch ein bisher unbekannter Stich darunter.
AUSSERDEM... - Andere Projekte
Wir hatten neben ELEND immer schon unsere eigenen Projekte, an denen die übrigen Mitarbeiter nicht beteiligt sind. Seit der Auflösung hatten wir mehr Zeit, an jener Musik zu feilen. Stilistisch reicht das von Pop und elektronischer Musik (Trip-Hop, Techno) über technischen Metal und Jazz zu symphonischen Kompositionen.
Iskandar Hasnawi und ich arbeiten derzeit - seit einigen Monaten schon - an einem neuen gemeinsamen musikalischen Projekt. Alle bisherigen ELEND-Mitarbeiter sowie einige neue Musiker sind daran beteiligt. Es handelt sich dabei wiederum um experimentelle Musik, die wahrscheinlich viel weiter geht als ELEND, aber ohne den postromantischen orchestralen Bombast, was Dürsternis und Bedrohlichkeit natürlich nicht ausschließt. Wir werden das Demo in unseren eigenen Studioeinrichtungen aufnehmen.
Ob ELEND jemals wieder reformiert wird, bleibt bis jetzt nicht absehbar.