Interview mit Marcel Tilger für Legacy


Alleine auf weiter Flur

Es ist nicht das erste Mal, dass das österreichisch-französische Kollektiv ELEND einen Zyklus, der sie für mehrere Jahre gebunden hat, mit einem Paukenschlag, man möchte beinahe sagen: mit einem Befreiungsschlag beendet. Nach „The Umbersun“ war im Rahmen der „Officium Tenebrarum“-Trilogie eine Steigerung ebenso wenig möglich, wie es Sinn machen würde, nach „A World In Their Screams“ die mit „Winds Devouring Men“ begonnene und mit „Sunwar The Dead“ fortgeführte Reihe weiterzuverfolgen. Obwohl dieser auf einem Gedicht Iskandar Hasnawis basierende Zyklus ursprünglich für fünf Alben konzipiert war, geht der vorzeitige Abschluss nicht zugunsten der atmosphärischen Geschlossenheit; die drei vorliegenden Werke bilden die dramatische Entwicklungslinie des Zyklus trefflich ab, handeln musikalisch und textlich von den unterschiedlichen Etappen einer Odyssee, eines Lebens und sind geeint durch ihre ungeheuerliche Intensität, die ELEND gleichermaßen mit Stille, Lautstärke, Tempo, Harmonie und Disharmonie erzeugen. Die Tatsache, dass ELEND (Industrial-)Sounds selber erzeugen und nicht auf bereits abgegraste CDs zurückgreift, macht sich offenkundig sehr bezahlt. Ob dem Hörer jetzt dennoch Bausteine zum Verständnis des Zyklus fehlen, ob er gar unvollendet ist, wird mit Renaud Tschirner, der gemeinsam mit Hasnawi den kreativen, von unzähligen Gastmusikern und Unterstützern umringten Kern ELENDS bildet, zu klären sein.

R. Tschirner: Warum sollte der Zyklus denn unvollendet sein? Das vorliegende Album ist nicht dasjenige, das erschienen wäre, wenn wir bei fünf Teilen geblieben wären. Was hier erscheint, ist der dritte und letzte Teil einer in sich schlüssigen Folge von Alben. Ob der Zyklus ursprünglich auf mehr Alben angelegt war oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Wir haben nicht einfach die Komposition der weiteren Teile abgebrochen, sondern die sich über die ersten drei Alben entwickelnde Steigerung, die wieder abfallen hätte sollen, um in ganz anderen Gefilden zu enden, verstärkt. Was letztendlich dabei herausgekommen ist, ist der dreiteiligen Struktur des „Officium Tenebrarum“ scheinbar näher, ist aber nicht unbedingt weniger originell als die einst auf fünf Teile angelegte Version. Wir sind immer um Kohärenz bemüht und würden uns niemals von einem durch äußere Umstände hervorgerufenen Problem zum Versagen zwingen lassen. Die jahrelange, qualvolle Arbeit an diesem Album bezeugt es. Die erste Fassung stammt aus der Zeit von „Sunwar The Dead“, also 2004. Wir hatten geplant, das Album in diesem Zustand im Frühjahr 2005 aufzunehmen, aber die Aufnahmen mussten wegen Zeitplanproblemen verschoben werden. Wir wussten aber, dass dies unsere letzte Chance sein würde, mit einem großen Ensemble ins Studio zu gehen. Wir beschlossen daher, den Zyklus den neuen Gegebenheiten anzupassen, und fusionierten dieses ELEND-Album mit den sich seit dem Jahr 2000 in Arbeit befindlichen Stücken für das Ensemble Orphique-Projekt. Vom ursprünglichen Album sind nur drei Stücke übrig geblieben, die wir aber neu orchestriert haben. Die Ensemble Orphique-Stücke wurden vereinfacht, um sie in den ELEND-Stil eingliedern zu können. In diesem Zustand wurde das Album im Herbst 2005 dann aufgenommen. Da sich die Komposition in immer radikalere Gefilde bewegte, um dem Zyklus einen würdigen Abschluss zu verschaffen, fiel das Endergebnis um einiges extremer, aus als ursprünglich geplant. Außerdem haben wir während des Abmischens den Klang zusätzlich radikalisiert.


Legacy: Musik zeichnet sich gegenüber der Literatur dadurch aus, dass sie Räume schaffen kann. Wer sich auf eure Musik einlässt, findet sich bald in Klangkathedralen wieder. Das Suchen nach Klängen geht zweifellos von einer bestimmten Erwartung aus. Wie aber etwas wirklich klingt, wie es sich von anderen Klängen abhebt oder mit ihnen verbindet, zeigt sich wohl grundsätzlich erst, wenn man eine Idee in die Tat umsetzt. Mit ELEND scheint ihr immer viel experimentiert, vielleicht sogar improvisiert zu haben. Wie übersetzt man Ideen in Musik?


Wir gehen immer empirisch vor. Selbst wenn man zu Beginn bereits mehr oder weniger klare Vorstellungen haben kann, muss alles erst erprobt werden. Nicht jeder Versuch gelingt, und oft entsteht Unerwartetes. Ob es sich um synthetisch generierte Klänge handelt oder um Geräusche, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen – alles das ziehen wir heran, aber lassen es über längere Zeit reifen. Das einzige, was wir inzwischen größtenteils ohne Erprobung durchführen können, ist der Einsatz von Instrumenten. Was man mit akustischen Instrumenten anfangen kann, welche Spieltechnik anzuwenden ist, um zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen, oder wie ein Klang im Nachhinein durch verschiedenartige Effekte verändert werden kann – das sind Dinge, die wir schon beim Komponieren abschätzen müssen, denn wir haben kein Orchester, auf das wir jederzeit zurückgreifen können. Aber darin haben wir inzwischen wirklich genug Erfahrung.


„A World in Their Screams“ wird von enormen Spannungsfeldern bestimmt, wirkt sehr dynamisch, hat aber, so scheint es, ´Schönheit´ ziemlich weit an die Peripherie verdrängt. Es gibt offenbar etwas Essenzielles und Archaisches, was sich selbst in einem poetischen Text, in einem Bild, in einer Musik, durch die Akkumulation von Wissen nicht ausdrücken, sondern allenfalls illuminieren lässt. Ihr scheint darauf anzuspielen: auf eine Welt hinter den Worten und Klängen, eine weit über sie hinausgehende Welt. In welcher Beziehung steht dieser letzte Zyklus-Teil zu den vorausgegangen?


Die Komposition wurde vom gleichen Gedicht gelenkt, das auch „Winds Devouring Men“ und „Sunwar the Dead“ zugrunde lag. Der Faden wird weiter gesponnen. Die Kreisform des Astrolabiums, dessen zentrale Stellung am Cover von „Winds Devouring Men“ von einem Zerbersten auf „Sunwar The Dead“ abgelöst wurde, ist endgültig von der Bildfläche verschwunden: Nichts Ordnendes umgrenzt mehr die Welt des Geschehens, die ins Verderben stürzt. Der grobe Ablauf des gesamten Zyklus dürfte nicht sehr schwer nachzuvollziehen sein: Warten, Hoffnung und Traum, Abschied, Irrfahrt, Siedlungsgründung, Gegnerschaften, Krieg/Bürgerkrieg, Zerstörung, Tod. Die Winde und ihre vernichtenden Kräfte begleiten diese Reise. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht unbedingt um einen linearen Ablauf, bei dem man jede Etappe anhand eines Stückes identifizieren kann. Das Fragment ist auf der textlichen wie auch auf der musikalischen Ebene der fundamentale ästhetische Baustein.


Als wir das Interview zu „Sunwar The Dead“ führten, hast du gesagt, dass es euch bei diesem Zyklus nicht darum geht, mit jedem Album bedrohlicher und brutaler zu werden und dass die gesamte ´Subtilität der Struktur´ erst mit dem letzten Teil offensichtlich werden würde. Kann man als Rezipient die Alben jetzt überhaupt so hören, wie sich von euch einmal angelegt worden sind oder wird man schlicht auf Nuancen, noch tiefere Eindrücke und Einblicke verzichten müssen? Ist damit der übergeordnete kompositorische Kontext der Werke zertrümmert?


Der Kontext hat sich nur verändert. Diese Veränderung zerstört weder Nuancen noch Einblicke, die Struktur ist bei weitem subtiler gestaltet als bei „Officium Tenebrarum“; sie beinhaltet zahlreiche Querverweise und Verknüpfungen. Der ehemalige übergeordnete Kontext, nach dem du dich zu sehnen scheinst, existierte nur in den Köpfen der beiden Komponisten, so wie viele andere Projekte, die nie verwirklicht worden sind und es auch niemals sein werden. Dort kräht kein Hahn danach, weil niemand davon weiß. Natürlich kann man als Rezipient die Alben nicht so hören, wie sie einst angelegt waren, aber das konnte man bisher ebenfalls nicht – denn für ein solches Hören hätten wirklich alle fünf Teile vorliegen müssen; sie existieren jedoch nicht. Was es aber gibt, sind diese drei Alben, die ein in sich geschlossenes Ganzes ergeben. Erst mit der Veröffentlichung des dritten Teiles wird es möglich, sich ein Urteil über den Zyklus zu bilden. Man kann einen Komponisten nicht nach etwas beurteilen, das er nicht geschrieben hat. Er kann nur nach seinen tatsächlichen Werken beurteilt werden.


Der Briefwechsel von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss dokumentiert sehr eindrucksvoll und dicht, wie die beiden darum gerungen haben, ein Werk zu schaffen, das im wahrsten Sinne des Wortes ein gemeinsames ist, kein Miteinander, sondern ein Ineinander von Text und Musik. Nichtsdestotrotz ist der Briefwechsel reich an Missverständnissen und deren Beseitigung. Während an „Ariadne auf Naxos“ gearbeitet wird, erklärt Hofmannsthal sich besonders deutlich. Im Grunde, behauptet er, könne die wirkliche Intention eines Dichters nie verstanden werden. Wie siehst du das, wenn du an dein Schaffen mit ELEND denkst? Immerhin komponiert ihr im Kollektiv, müsst Texte und Layout verhandeln. Wie kommuniziert ihr neue Ideen untereinander? Ist das Konzept von ELEND in euren Köpfen stets so klar und präsent, dass ein Ringen um individuell eingebrachte Ideen gar nicht notwendig wird?


Der Vergleich mit Strauss und Hofmannsthal ist, abgesehen davon, dass er anmaßend ist, nicht brauchbar. ELEND ist wie ein gemeinsamer Boden, auf dem wir uns im Rahmen der anfangs postulierten musikalischen Normen frei bewegen können. Wir komponieren seit Anbeginn nur zu zweit und haben durch unsere lange Zusammenarbeit eine musikalische Sprache entwickelt, die nur für unsere Zusammenarbeit maßgebend ist und außerhalb unserer gemeinsamen Projekte sinnentleert wäre. Das Durchsetzen oder Erhalten von individuellen Ideen oder Intentionen ist letztendlich zweitrangig, weil von vornherein klar ist, dass das Endprodukt ohnehin nur ein Kompromiss sein kann; allerdings ein Kompromiss, der ohne den einen oder anderen der beiden Mitarbeiter nicht existieren könnte und damit einzigartig ist. Hofmannsthal und Strauss waren auf ihrem jeweiligen Gebiet Meister, aber Fremde in der Welt des anderen. Bei ELEND haben beide Arbeitskollegen eine den Anforderungen entsprechende, ebenbürtige Ahnung von Text, Musik und Bild, und davon, wie diese Elemente ineinander übergreifen können. Dass nur einer der beiden die Texte schreibt, fällt dabei nicht ins Gewicht. Es kann unmöglich zu den Kommunikationsproblemen kommen, auf die du anspielst.


Schon bei „Sunwar The Dead“ hast du dich aus dem Kompositionsprozess etwas zurückgezogen. Ging damit auch ein grundsätzlicher Verlust von Einfluss auf ELENDS Klangbild, auf euer grundlegendes ästhetisches Programm, auf die Präsentation eurer Veröffentlichungen Hand in Hand?


ELEND beruht auf ästhetischen Regeln, denen eine gemeinsame Entscheidung zugrunde liegt. Ob ein Musikstück gemeinsam oder im Alleingang komponiert wurde, spielt keine Rolle. Damit es ein Stück auf ein Album schafft, bedarf es der Zustimmung jedes der beiden Komponisten. Außerdem wird der inaktive Komponist ständig durch seine Stellungnahme in den kreativen Prozess miteinbezogen, selbst wenn er streng genommen keine einzige Note beisteuert. Ebenso erfolgen manchmal beim Schreiben der Partituren für die Musiker oder während der Aufnahmen im Nachhinein Anpassungen oder Korrekturen am Original, die immer gemeinsam bewältigt werden müssen. Beide Komponisten sind prinzipiell für die gleichen Aufgaben zuständig (wenn man davon absieht, dass Iskandar Hasnawi immer schon eine prägende Rolle gespielt hat, da er die Texte schreibt), wobei sich das Gewicht meiner Arbeit bei diesem Zyklus von Komposition auf Produktion (Abmischen und Mastering) verlagert hat – aus einfachen praktischen Gründen des Zeitmanagements.


Besonders mit „Winds Devouring Men“ und „Sunwar The Dead“ habt ihr deine sehr charismatische Stimme, deinen in all der Wucht beinahe warmen, intimen und ordnenden Gesang als wichtiges Merkmal von ELEND etabliert. Auf dem neuen Album, dessen grundsätzliches Erscheinungsbild mir homogener erscheint als das der unmittelbar vorangegangen Alben, fehlt dein Gesang. Warum? Weil er einen zu klaren Bruch mit dem Titel dargestellt hätte? Selbst der Gesang der Solisten und des Chors zeitigt ja eine verblüffende Wirkung. Dass man nämlich zu spüren glaubt: Dieser Gesang ist kein Gesang, sondern Schrei.


Ein männlicher Lead-Gesang hätte zu viel Ruhe und Sicherheit suggeriert. Die narrative Stimme wurde zudem durch zahlreiche Effekte verfremdet, um das Unbehagen und den Eindruck von Unmenschlichkeit zu vergrößern.


Bleiben wir noch etwas bei Hofmannsthal und Strauss und ihrer „Ariadne auf Naxos“: Es ist vor allem Strauss, der sich um die Bühnenwirkung der Opern sorgt – er hat zweifellos mehr Erfahrung, was auf der Bühne machbar ist, was sich effektvoll inszenieren lässt –, der fürchtet, Hofmannsthals Libretto könnte dem Publikum einen Zugang erschweren, gar verstellen, wenn nicht einmal er als Komponist alle Andeutungen durchschauen könne. Hofmannsthal sieht das gelassen und verweist auf Reaktionen und Kritiken zum „Rosenkavalier“, aus denen er ableitet, dass schon dieses eingängigere Werk nicht verstanden worden sei. Hast du das Gefühl, dass euer Schaffen von euren Hörern und Kritikern verstanden oder zumindest anerkennend rezipiert wird? Gibt es etwas, was euch in eurem Schaffen besonders wichtig ist, bisher aber entweder nicht zur Kenntnis genommen oder missverstanden wurde?


Alle Erläuterungen, die wir in Interviews geben, sind dazu gedacht, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Wenn zu gewissen Punkten keine Erläuterungen zu finden sind, liegt das daran, dass wir es für sinnlos erachten, uns dazu zu äußern. Ehrlich gesagt kümmert mich die Rezeption unserer Alben wenig. Das Veröffentlichen eines Werkes ist ein notwendiger Prozess, um sich von ihm trennen und zu Neuem übergehen zu können. Ob es Anerkennung findet oder nicht, ist nur hinsichtlich des weiteren Schaffensprozesses mein Problem, z.B. wenn die weitere Arbeit aufgrund von Sachzwängen von den Einnahmen abhängt, die ein Album abwirft. Wenn sich ein Hörer trotz wiederholter Erklärungen einbildet, dass es sich bei ELEND um ernste Musik handelt, dann ist das seine Sache.


Bringt euch fehlender Publikumszuspruch mitunter dazu, an eurer Arbeit zu zweifeln, über ihr zu verzweifeln?


Zweifel an der Arbeit, keineswegs. Man droht eher an der materiellen Situation zu verzweifeln, in die man durch seine eigene Konsequenz geschlittert ist.


Mit ELEND habt ihr stets ein kreatives Anliegen verfolgt, das sich um Trends nicht schert, das nicht darauf zielt, zu unterhalten, sondern einen ernsthaften Anspruch hat. „Man ist“, hat Wolfgang Rihm in einem Interview gesagt, „der Unterhaltungswelt ausgeliefert und bekommt aus deren Kathedralen ständig mitgeteilt, dass auf ihrer Seite die demokratische Mehrheit zu finden sei. Heute ist das Entertainment heilig gesprochen, man darf schon gar nicht mehr sagen, dass einen das nicht interessiert.“ Würdest du diese Aussage unterschreiben können?


Natürlich. Was am meisten stört, ist die verlogene Verwendung des Begriffs Demokratie. Man kann und soll aber sehr wohl sagen, dass das einen nicht interessiert, wenn das der Fall ist. Die beste Art, sich zu wehren, ist das eigene Komponieren.


In Bezug auf Ensemble Orphique sagtest du mir, dass du keinen Raum in der Musikindustrie wüsstest, in dem Platz für so etwas Radikales sein könnte. Die Einstürzenden Neubauten haben für sich eine Form gefunden, um weiterhin unabhängig Musik produzieren zu können. Sie lassen sich von so genannten Supportern Geld überweisen und dokumentieren auf ihrer Homepage, wie dieses Geld direkt in die Produktion neuer Musik fließt, die dann auch nur diesem kleinen Kreis von Unterstützern zugänglich gemacht wird. Denkst du, dass das ein Weg sein kann, um tatsächlich kompromisslos und unabhängig in seinem künstlerischen Ausdruck zu sein? Wie macht sich bei ELEND, in eurem Schaffen, die Abhängigkeit von Plattenfirmen bemerkbar?


Das Modell der Einstürzenden Neubauten ist nur eine andere Form der Abhängigkeit. Außerdem kann man eine Situation dieser Art nur dank einer Anerkennung erreichen, der ein großflächiger Erfolg vorangegangen sein muss. Vollkommene finanzielle Unabhängigkeit gibt es nur dann, wenn man mit minimalen Mitteln arbeiten kann; das wird aber durch die Kunstform vorgegeben. Ein Komponist oder Schriftsteller braucht nicht viele Hilfsmittel, um seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Viele Komponisten erleben freilich niemals die Aufführung ihrer Werke. ELEND endet eben nicht bei der bloßen Komposition, sondern umfasst auch die Produktion. Musiker zu bezahlen und Räumlichkeiten zu besorgen, ist nicht das gleiche, wie Notenpapier zu kaufen.


Habt ihr das Gefühl, mit ELEND alleine auf weiter Flur zu stehen?


Das ist kein Gefühl, sondern eine Tatsache.


In den Feuilletons nehmen Besprechungen von Inszenierungen und Interpretationen der immer gleichen Werke Mozarts, Wagners und Verdis den meisten Raum ein. Interessiert euch das Inszenieren und Interpretieren (von Musik) als Kunstform überhaupt? Wäre es für euch reizvoll, beispielsweise Strauss, den du immer an prominenter Stelle erwähnt hast, wenn es um Inspiration ging, auf eure Weise zu interpretieren oder zählt für ELEND in erster Linie der originäre schöpferische Akt?


Wir lehnen das Interpretieren fremder Stücke nicht prinzipiell ab. Wenn man das Gefühl hat, eine Komposition auf neue Art wiedergeben zu können, sodass bisher vernachlässigte Aspekte, die man für hörenswert hält, zur Geltung kommen, dann ist eine Neubearbeitung gerechtfertigt. Ich lasse mich ungern auf das Bearbeiten eines Stückes ein, wenn ich es für bereits vollkommen halte. Was aber das Interpretieren von ernster Musik angeht, so fehlt uns dazu die Kompetenz. Obwohl wir imstande sind, für sehr kleine Ensembles den Dirigenten zu spielen, überlassen wir diese Tätigkeit bei allen unseren Ensemble-Aufnahmen einem Profi; bisher kümmerte sich unser Geiger David Kempf darum. Ein großes Orchester zu dirigieren, bedarf einer speziellen Ausbildung und langjähriger Erfahrung. Ein spezifisches Werk der E-Musik ohne diese mit ihr gewachsenen Techniken wiederzugeben, d.h., als Unterhaltungsmusik zu behandeln, käme einer Reduktion gleich. Bei dem, was wir mit ELEND seit Anbeginn gemacht haben, handelt es sich um eine viel intelligentere Verarbeitung der Techniken der ernsten Musik.


Ist schon jetzt absehbar, wohin euch euer Weg mit ELEND führen wird?


Es ist unwahrscheinlich, dass wir uns ein drittes Mal auf einen Albenzyklus einlassen werden. Für die nächsten ein, zwei Jahre wird ELEND jedenfalls auf Eis gelegt. Was wir uns allerdings sehr wohl vorstellen können, ist, eine Serie an Mini-Alben mit „Winds Cycle“-Outtakes zu veröffentlichen. Es fehlt uns nicht an bereits komponierten Stücken, die für die beiden letzten Teile des Zyklus geschrieben worden waren, bevor wir mit der Umstrukturierung begannen. Auch einige Stücke, die aus den Arbeitsversionen der bisher veröffentlichten Alben herausfielen, sind teilweise sogar fertig aufgenommen und abgemischt. Iskandar Hasnawi wird Ensemble Orphique ohne mich im musikalischen Rahmen eines Kammerensembles weiterführen – als das ursprüngliche Mammutprojekt war es ja letztlich undurchführbar geworden. Was von dieser ursprünglichen Fassung übrig bleibt, sind die auf „A World in Their Screams“ umgesetzten Fragmente und Ideen. Dieser Stilwandel wirkt zugleich auch als Befreiung von den massiven orchestralen Ungetümen, die wir mit ELEND erschaffen haben. Veröffentlichen wird dieses Album Orphika, das Label, das erst vor kurzem von Noevdia speziell für ELEND und ELEND-Nebenprojekte ins Leben gerufen wurde. Vielleicht wird sich auch für mich unter diesen neuen Bedingungen die Gelegenheit ergeben, die Arbeit mehrerer Jahre zu veröffentlichen, ohne das Gefühl zu haben, von einer Plattenfirma ausgebeutet zu werden.

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