Interview mit Stefan Belda für Prophecy Productions
1. Nach Fertigstellung eurer Trilogie 1998 war die ursprüngliche "Aufgabe" von ELEND erfüllt. Welche Pläne hattet ihr damals für eure musikalische Zukunft? Welche Gedanken habt ihr damals bezüglich der Zukunft von ELEND gehabt?Renaud Tschirner: Einerseits gab es den Reiz, den Vertrag mit Music for Nations auszunützen und zu versuchen, die mit Elend begonnene Arbeit unter einem anderen Namen dort fortzuführen. Da der Vertrieb von The Umbersun aber nicht zufriedenstellend lief und der Verkauf darunter litt, wurde die Zusammenarbeit mit Music for Nations nicht fortgesetzt. Das Offizium-Konzept war vollendet, also war es nicht so schlimm, mit Elend endgültig aufzuhören. Was wir auf keinen Fall wollten, war eine bloße Wiederholung dessen, was wir musikalisch im Rahmen von Elend auf die Beine gestellt hatten.
Das eigentliche Elend-Nachfolgeprojekt entwickelte sich zu einer wirklich eigenständigen, sehr ambitiösen Sache, die wir immer noch weiterverfolgen und deren Veröffentlichung immer noch nicht absehbar ist (Ensemble Orphique). Im Laufe der Zeit entstanden daraus zwei weitere Projekte, darunter auch das Material, das letztendlich zu den Stücken des neuen Elend-Zyklus führte.
2. In den fast fünf Jahren zwischen The Umbersun und Winds Devouring Men seid ihr vollkommen von der Bildfläche verschwunden. Was habt ihr die ganze Zeit über (in kreativer Hinsicht) gemacht? Einzig von dir, Renaud, weiß ich, dass du Mitglied bei KorovaKill wurdest, mit denen du 2001 das Album WaterHells veröffentlicht hast.
Man kann kaum von einer Mitgliedschaft sprechen. Nachdem es klar war, dass die Arbeit an Korova eingestellt werden musste, entschied sich der Bandleader, die neuesten Stücke wenigstens live zu präsentieren, und zwar als krönenden Abschluss. Es wurden frühere Mitglieder aufgefordert, daran teilzunehmen, und für ein paar wenige Konzerte die wahrscheinlich beste Besetzung der Bandgeschichte geschaffen. Ich hatte in der Vergangenheit als Keyboarder oder Geiger an Korova-Konzerten teilgenommen und wurde ebenfalls aufgefordert, mich zu beteiligen. Diese Konzerte sind immer noch eine meiner besten Erfahrungen, was öffentliche Auftritte angeht. Korova live - es gibt nichts Vergleichbares. Dann geschah lange nichts, bis ein Vertragsangebot von Red Stream kam. Der Name wurde geändert, unvollendete Stücke fertiggestellt, und ich schrieb an den Synth-Arrangements des neuen Albums mit. Das ist alles; es handelte sich dabei sicher um mehr als um eine bloße Session-Arbeit, aber um definitiv weniger als die Art Arbeit, die ich in Elend erledige.
Jenseits von Elend sind die beiden Komponisten teils in gemeinsamen, teils in eigenen Projekten tätig. Iskandar Hasnawi schuf um 1997 ein unabhängiges Projekt (ohne meine Mitwirkung), das auf eine für damals relativ revolutionäre Weise Elemente von Elend mit einer Trip-Hop-Basis verband. Das mag inzwischen recht konventionell erscheinen, weil Trip-Hop seit einigen Jahren genau die Domäne ist, in der sich fast jeder betätigt, der einen Computer besitzt. Aber damals gab es relativ wenig in diesem Bereich. Ich schätze, dass dies mit ein Grund ist, warum Iskandar Hasnawi es für zweifelhaft hält, seine alten Stücke jetzt überhaupt noch zu veröffentlichen.
Das, woran wir gemeinsam sonst noch arbeiten, lässt sich, wie bereits angedeutet, in zwei weitere Projekte aufteilen. Bei Ensemble Orphique handelt es sich um experimentelle E-Musik an der Grenze zur zeitgenössischen Komposition oder Avantgarde; für den Durchschnittshörer also eher schwer nachzuvollziehen und wahrscheinlich zu anstrengend. Rein musikalisch heißt das z.B. Elektro-Akustik, Mikrotonalität, klangfarbliche, rhythmische und strukturelle Innovationen usw. Wir sind immer auf Kohärenz bedacht, und von diesem umfangreichen Material mussten wir einiges entfernen, weil es mit der sich herauskristallisierenden Linie letztendlich nicht mehr vereinbar war. Entweder, weil es zu populär angehaucht war, oder einfach zu viel mit bloßem Lärm zu tun hatte. Aus diesem Grund entstand daraus einerseits ein Industrial-Projekt (Statues), das sich fast ausschließlich mit Brutalität und Gewalt beschäftigt, andererseits das reformierte Elend-Projekt.
3. Wann wusstet ihr genau, dass ein neues ELEND-Album entstehen wird? Was hat darauf hingedeutet bzw. was hat euch den Anlass dazu gegeben, den Namen wieder mit Leben zu füllen?
Anfang 2002 war es ziemlich klar, dass ein Teil des nicht verwendeten Materials im Grunde genau die Elemente enthielt, die für Elend ausschlaggebend sind: die Überlagerung von ernster Musik mit populären musikalischen Strukturen und eine essenziell dramatische, tragische Ausdrucksform.
4. Man hört Winds Devouring Men sofort an, dass es sich dabei um ein ELEND-Album handelt. Dennoch wirst du, als sich stetig entwickelnder Künstler, sicherlich sofort sagen können, wo gravierende Unterschiede zwischen dem aktuellen Album und der Trilogie bestehen.
Die Alben des Offiziums mussten sehr strikten Kompositionsregeln folgen, was die musikalischen Referenzen an die westliche Tradition, aber auch was die instrumentalen und strukturellen Normen usw. angeht. Jedes Album musste dichter, gewaltiger und bedrückender sein als das vorhergehende. Beim neuen Zyklus ist alles viel freier und offener, der thematische Rahmen ermöglicht es uns, jenseits der westlichen Tradition liegende Elemente zu integrieren.
5. Mit eurer Trilogie hattet ihr eine konkrete musikalische Vision: ihr wolltet Dunkelheit und (musikalischer) Gewalt auf neue Art Ausdruck verleihen. Welche Aspiration steht hinter Winds Devouring Men?
Diese Grundintention wird immer die gleiche bleiben; sie ist die Basis unserer gemeinsamen Arbeit. Das Offizium war nur eine von mehreren Möglichkeiten, dieses Gebiet auszuloten.
6. Nach wie vor wohnt eurer Musik etwas sehr Erhabenes, Mächtiges inne, das meines Erachtens eine starke visuelle Kraft hat. Habt ihr schon mal mit dem Gedanken gespielt, eure Musik zu verfilmen? Wenn euch die entsprechenden Mittel zur Verfügung ständen, wie würde eine Visualisierung eurer Musik aussehen?
Wir interessieren uns sehr für visuelle Kunst. Der springende Punkt ist aber, dass Elend nicht mehr visuelle Komponenten benötigt als das Layout, das auf dem Tonträger selbst geboten wird. Wenn dem Hörer beim Abspielen unserer Alben visuelle Hilfsmittel abgehen, dann ist ihm wahrscheinlich eines der wichtigsten Fundamente unserer Musik entgangen. Wozu explizit in einem Film das auszudrücken versuchen, was die Musik selbst schafft? - Das wäre vollkommen überflüssig und damit schädlich.
7. Würde euch vielleicht das Angebot zur Untermalung eines bereits bestehenden (oder zu drehenden) Filmes reizen? Wie steht ihr generell Soundtracks gegenüber, einem Genre, dem ich eine gewisse Ähnlichkeit zur Musik von ELEND attestieren möchte?
Das ist eine Bemerkung, die wir oft zu hören bekommen. Dem Gedanken, Musik zu verfilmen oder Bilder zu vertonen, bin ich prinzipiell zwar nicht abgeneigt; nur muss man unterscheiden zwischen den beiden Extremen Musikvideo und Filmsoundtrack auf der einen Seite, und einer ebenbürtigen Darstellung beider Komponenten auf der anderen. Letzteres funktioniert selten; es hilft, wenn der Komponist auch zugleich Regisseur ist. Die meisten Soundtracks, die ich kenne, müssen sich den Bildern unterordnen, genauso wie sich ein Video einem Song unterzuordnen hat.
Ich hätte auch nichts dagegen, alleine oder gemeinsam mit Iskandar Hasnawi Filmmusik zu schreiben, aber nicht unter dem Namen Elend, denn er hat in der Verbindung mit fremdem Material nichts verloren.
Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass es sich dabei um zwei sehr verschiedene Arten der Komposition handelt. Ich verstehe zwar, dass man Elend gerne in Verbindung mit Soundtracks bringt (das liegt größtenteils an der Instrumentierung und an einer präzisen Verwendung von Dramatik), aber man vergisst viel zu schnell, dass zwei Elemente diese Verbindung unhaltbar machen: einerseits der Lead-Gesang, sei es in der Form von Schreien, sei es in der Form von einem Einsatz der Stimme, der auf Pop-Musik-Konventionen beruht, und andererseits die Strukturen der Stücke. Filmmusik arbeitet größtenteils mit wenigen Themen, Leitmotiven und Variationen, die durch die Angleichung an den Film fragmentarisch bleiben müssen; die Musik von Elend sieht strukturell ganz anders aus: jedes Elend-Stück ist ein unabhängiges, in sich geschlossenes Werk, mit einer bestimmten Struktur und einer genau durchdachten dramatischen Entwicklung.
8. Jeder Komponist hat einen musikalischen Hintergrund, der sich direkt oder indirekt in den eigenen Kompositionen niederschlägt. Welche Art von Musik stand der auf Winds Devouring Men Pate bzw. welche Einflüsse lassen sich auf dem Album wiederfinden? Wie sieht es diesbezüglich bei Iskandar aus?
Der gesamte musikalische Hintergrund muss sich nicht niederschlagen. Man darf nicht vergessen, dass Elend auf dem Wissen von zwei verschiedenen Komponisten beruht, die sich nur in wenigen Aspekten einig sind. Es gilt, den Bereich zu finden, in dem sich beide gleichberechtigt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ausdrücken können. Dieser gemeinsame Bereich kann immer nur ein Kompromiss sein. Würde es diesen nicht geben, wären unsere Alben eine wirre, inkohärente Ansammlung von sehr verschiedenen Stilen. Was Elend angeht, haben wir uns auf sehr spezifische Aspekte festgelegt, die für uns maßgebend sind. Es ist deshalb auch sehr schwierig, über musikalische Einflüsse zu sprechen. Nur weil dem einen oder anderen ein Musikstück gefällt, heißt das noch lange nicht, dass es zu einem Einfluss werden muss. Eine Idee, die einer der beiden beim Hören eines bestimmten Werkes hat, wird durch das Mitmischen des anderen so verfremdet, dass es im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar ist, wo sie anzusetzen ist. Ich kann es immer nur wiederholen: Der Ursprung von Elend liegt einerseits im extremen Metal, andererseits in der ernsten Musik. Die Intention des ersten (rohe Gewalt), die Ausdrucksformen (natürlich etwas weit gefasst) der zweiten. Ich kann natürlich eine Liste von Komponisten angeben, von denen ich denke, dass wir sie beide schätzen, und in deren Tradition wir uns sehen, ohne uns auch nur im geringsten auf die gleiche Stufe stellen zu wollen. Deren Musik ist allerdings kaum mit Elend vergleichbar: Mahler, Strauss, Bartók, Varèse, Scelsi, Messiaen, Xenakis, Ligeti, Nono, Henry, Górecki, Penderecki, Pärt. Es gibt darüber hinaus einige Gebiete, die uns beide interessieren, extremer Metal, manches aus dem Independent- oder sogar Mainstream-Pop-Bereich, manches aus der Filmmusik, aber jenseits davon haben wir sehr verschiedene Interessen.
9. ELEND - der Name, den ihr vor bald zehn Jahren für euer Projekt gewählt habt. Mit welchen Gedanken habt ihr euch damals für ihn entschieden? Kannst du dich auch heute noch mit ihm und seiner Bedeutung identifizieren (wenn ja, warum)? Und denkst du nicht, dass er heutzutage zu einengend und auch (negativ) wertend für eure Musik ist?
Iskandar Hasnawi verband damit "geistige Verlassenheit" und "Hoffnungslosigkeit" und mochte den Klang des Wortes. Ich habe den Namen nie besonders attraktiv gefunden, aber das ist vollkommen irrelevant. Es ist bloß ein Name; das heißt, er muss vor allem eine Aufgabe erfüllen, die jeder beliebige Name erfüllen könnte, nämlich die Wiedererkennbarkeit gewährleisten. Mehr erwarte ich mir nicht. Wenn er zusätzlich auch noch auf der inhaltlichen Ebene für die öffentlichkeit funktioniert, dann umso besser. Man hört immer wieder aus der Presse, der Name sei Programm. Wer sich vom Wort abschrecken lässt, ist nicht unbedingt jemand, der die Musik ablehnen würde, wenn er sie hören würde, aber das gleiche Problem wird bei jeder Namensgebung auftreten.
10. Den lyrische Hintergrund von Winds Devouring Men macht ein episches Gedicht von Iskandar aus, von dem Fragmente für die Texte des Albums verwendet wurden. Kannst du, sofern es dir möglich ist, über Inhalt und Bedeutung dieses Gedichtes erzählen?
Es handelt sich dabei um eine Art innere Odyssee, die persönliche Themen mit Anknüpfungen zu altgriechischen Werken verbindet. Besonders der Bezug zu den homerischen Epen (Ilias und Odyssee), aber auch zu Aischylos' Persern ist wichtig, genauso wie zu den unterschiedlichen Bearbeitungen der Odyssee im Laufe der Literaturgeschichte. Es kommen fragmentarische Zitate von Dichtern vor, die unterschiedliche Aspekte dieser Reise behandelt haben.
Das Thema der Reise ist eng mit dem des Wartens und des Zweifelns verbunden, aber auch mit dem Motiv des Sehens. Die Winde des Titels haben unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, ob sie in erzählenden oder in allegorischen Passagen auftauchen. Sie können entweder die kinetische Energie sein, die von Seeleuten für die Segel benötigt wird, oder als Fruchtbarkeits- oder Zerstörungsmacht verstanden werden, die den Menschen und die Zivilisation ermöglicht oder vernichtet. Man kann sie daher als ein Symbol für die Zeit, den Tod und das Vergessen auffassen.
11. Wie viel vom ursprünglichen Inhalt wird man aus den Album-Lyrics herauslesen können? Sind sie überhaupt in sich schlüssig? Wie wichtig ist euch dieser Aspekt überhaupt?
Ich kann nicht viel dazu sagen. Ich kannte eine der zahlreichen Versionen des Textes, lange bevor Fragmente daraus für Elend verwendet wurden; das Thema der Odyssee war bereits dort ein zentrales Element. Der "ursprüngliche Inhalt" ist auf Elend bezogen unwichtig. Was zählt, ist das, was daraus gemacht wurde.
12. Euer Publikum war bis jetzt in erster Linie in der Metal-Szene zu finden. Was denkst du, macht die Musik ELEND für Metal-Fans interessant? In welchen Aspekten decken sich Metal-Musik und ELEND?
Die erste Plattenfirma, die Interesse an Elend zeigte, war Holy Records, ein einschlägiges Metal-Label. Warum nicht? Ich bin mir nicht sicher, ob zum damaligen Zeitpunkt Firmen aus anderen Bereichen interessiert gewesen wären. Der Grund, warum die Metal-Szene sofort ansprang, liegt wahrscheinlich in der Brutalität der Schreie. Die Mischung aus Düsternis und Gewalt scheint Mitte der Neunziger gut funktioniert zu haben. Wahrscheinlich kann man die bevorzugte Rezeption im Metal-Bereich auf eine gemeinsame Intention zurückführen: Metal ist keine düstere Musik, selbst wenn es von vielen Vertretern dieses Stils behauptet wird, aber sie hat mit extremer Gewalt zu tun, jedenfalls gibt es eine Tendenz dazu in zahlreichen Bands, wie z.B. Autopsy, Dillinger Escape Plan, Cadaver Inc., Morbid Angel, Cephalic Carnage usw. Würde sich Metal auf diese Tendenz beschränken, würde ich problemlos zu dieser Musikrichtung stehen können.
13. Fühlt ihr euch in dieser Szene wohl oder würdet ihr lieber andere Hörer mit eurer Musik ansprechen?
Wir haben uns nie um Kategorien gekümmert. Natürlich wäre es prinzipiell wünschenswert, dass die Musikkonsumenten lernen, ihren Horizont zu erweitern. Es hat sich ergeben, dass wir in erster Linie in der Metal-Szene Fuß fassen konnten. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich der durchschnittliche Elend-Hörer immer noch dort befindet. Bereits mit The Umbersun war deutlich, dass sich die Rezeption jenseits vom Metal erstreckte.
14. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeitsweise bei ELEND die Planung regelmäßiger Album-Veröffentlichungen beinhaltet. Dennoch: steht eine weitere CD von euch für die absehbare Zukunft in Aussicht? Wie siehst du momentan überhaupt die Zukunft von ELEND?
Im Gegenteil: die regelmäßige Veröffentlichung ist ein konstitutives Element des Projekts. Die lange Pause hat damit nichts zu tun. Was zu Beginn entschieden wurde, wurde konsequent mit The Umbersun zu Ende gebracht. Wir müssen die Erscheinung von mehreren Alben immer planen, da es weder möglich noch interessant wäre, wahllos voneinander unabhängige Alben zu produzieren. Winds Devouring Men ist der erste Teil eines neuen Zyklus, über den ich vorläufig nicht viel sagen werde, da zumindest die Musik des nächsten Teiles dem Leser zur Begutachtung vorliegen sollte. Es hat in meinen Augen nicht viel Sinn, über noch nicht Veröffentlichtes zu sprechen, da der Leser keinerlei Möglichkeiten besitzt, die verbalen Ausführungen mit musikalischem Material in Verbindung zu bringen. Bis zum Ende dieses Zyklus wird von jetzt an jedes Jahr (soweit es uns unsere Plattenfirmen ermöglichen) ein neues Album erscheinen. Darüber hinaus ist die Zukunft des Projekts ungewiss.